Fachbereich Mathematik

Algebraische Geometrie

Sepp Herbergers Worte ,,der Ball ist rund`` treffen auch auf die Gleichung x2+y2+z2 = 1 zu. Warum? Nun, in der Schule mag dem Leser die Idee begegnet sein, Punkte im Raum durch drei Koordinaten (x,y,z) beschreiben. Wenn man dies tut, so sei die Frage erlaubt, welche Punkte die obige Gleichung erfüllen ... und siehe da, es sind genau die Punkte der Oberfläche einer Kugel, d. h. in gewissem Sinne ist es Sepp Herbergers Fußball!


Abbildung 1: Die Oberfläche des Fußballs wird beschrieben durch die Gleichung x2+y2+z2=1.

Die Lösungsmengen von Gleichungen verschiedenster Art sind für Mathematiker, Naturwissenschaftler und Ingenieure von größtem Interesse, denn mit ihrer Hilfe kann in der Planungsphase darüber entscheiden werden, ob die Konstruktion eines Hauses stabil ist und ob das Design eines Mikrochips die gewünschten Anforderungen erfüllt. Wen wundert es da, daß sich die Mathematiker mit der Struktur solcher Lösungsmengen beschäftigen.

In der algebraischen Geometrie beschränkt man sich darauf, sogenannte polynomiale Gleichungen zu betrachten, d. h. Gleichung wie die des Fußballs. Es ist erstaunlich, welche Vielfalt bekannter Gegenständer auf diese Weise wiederentdeckt werden kann. Engländer finden ihren Frühstücks-Doughnut ebenso wie Verliebte ihr Herz.


Abbildung 2: Die Gleichung eines Doughnuts ist schon etwas komplizierter: (x2+y2+z2-13)2 - 36*(4-z2)=0.

Abbildung 3: Selbst das Herz des Mathematikers wird durch eine Gleichung beschrieben (2x2+y2+z2-1)3-(1/10)*x2z3-y2z3=0.

Was aber ist gemeint, wenn man davon spricht, die Struktur der Lösungsmengen zu untersuchen? Es kann schwerlich darum gehen, alle Lösungen anzugeben, gibt es doch in der Regel unendlich viele. Von Interesse sind vielmehr geometrische Eigenschaften der Lösungsmenge - ist sie überall glatt wie die Kugel oder besitzt sie eine Spitze (auch Singularität genannt) wie das Herz; setzt sie sich vielleicht aus mehreren Komponenten zusammen und wie schneiden diese sich (siehe Abbildung 4); und welche Dimension haben die einzelnen Komponenten (siehe Abbildung 6).


Abbildung 4: Die Gleichungen xz=0 und z2-1=0 beschreiben je zwei Ebenen - die ersten beiden schneiden sich in einer Geraden, die anderen sind parallel.

All diese Merkmale helfen, die Lösungsmenge besser zu verstehen, und zugleich sind sie ein wichtiges Hilfsmittel bei einem der zentralen Anliegen der algebraischen Geometer - dem Ziel, alle Lösungsmengen ,,in Schubladen zu stecken``. Man spricht davon, die Lösungsmengen zu klassifizieren.

Das Loch des Doughnuts unterscheidet ihn von der Kugel; die Spitze unterscheidet das Herz von beiden; die gemeinsame Schnittgerade unterscheidet die ersten beiden Ebenen in Abbildung  4 von den anderen beiden. Werden die Gleichungen komplizierter, so wird die Aufgabe, zwei Lösungsmengen zu unterscheiden, zum Problem.

Das Bemühen, diesem Problem beizukommen, hat zur Bildung neuer Begriffssysteme geführt, in denen obige Lösungsmengen als Spezialfälle sogenannter algebraischer Varietäten oder algebraischer Schemata auftreten, die die moderne Algebra und Zahlentheorie unter einem Dach vereinen. Der Einsatz von Methoden aus anderen Bereichen der Mathematik, wie der Topologie, der Theorie der differenzierbaren Mannigfaltigkeiten, der homologischen Algebra oder der Theorie der dynamischen Systeme, hat die Entwicklung von Invarianten ermöglicht, die die Unterscheidung der Lösungsmengen erlauben. Eine Invariante ordnet einer Lösungsmenge eine Zahl (oder etwas komplizierteres) zu, wie etwa die Anzahl der ,,Löcher`` vom Typ des Doughnuts; stimmen die Zahlen nicht überein, gehören die Lösungsmengen nicht in die gleiche Schublade. Man kann dies mit der Spektralanalyse in der Astrophysik vergleichen, mit deren Hilfe Galaxien unterschieden und klassifiziert werden.

Die Erfolge durch die neuen Begriffssysteme haben in den letzten Jahrzehnten zu einer stürmischen Entwicklung der Algebraischen Geometrie und ihres Umfeldes geführt, die zur Zeit weitere starke Impulse aus der Stringtheorie der Physik erfährt sowie von den neuen Möglichkeiten des symbolischen Rechnens profitiert. Ideenreichtum und Erfindungsgeist, gepaart mit präziser analytischer Strenge haben diese Entwicklungen ermöglicht und sind auch weiterhin von jedem algebraischen Geometer gefordert.


Abbildung 5: Daten vom Mars sind durch Hintergrundrauschen aus dem All verfälscht. Fehlerkorrigierende Codes können dieses Rauschen wieder herausfiltern.

Die Systematik der Algebraischen Geometrie ist in den Anwendungen und auch innerhalb der Mathematik überall dort gefragt, wo es um nicht-lineare Probleme geht. So sind z.B. die charakteristischen Flächen zu partiellen Differentialgleichungen algebraische Varietäten, deren Struktur und Singularitäten genau analysiert sein müssen, um bei numerischen Lösungsverfahren keinen Schiffbruch zu erleiden. Systeme der Algebraischen Geometrie spielen auch in der modernen Zahlentheorie eine große Rolle. Dies hat zu einem neuen Forschungsgebiet, der Arithmetischen Geometrie geführt. Mit Methoden dieses Bereichs ist es 1992 gelungen, die ca. 350 Jahre alte Fermat-Vermutung zu beweisen, welche besagt, daß die Gleichung xn+yn = zn keine natürlichen Zahlen als Lösungen hat.

Spezielle Kurven der Arithmetischen Geometrie werden in der Kodierung und Dekodierung von elektronischen Daten zur Fehlerkorrektur benutzt, d. h. zum Beseitigen von Hintergrundrauschen, das durch die Datenübertragung entstanden ist. Die so gewonnenen Algorithmen sind vom theoretischen Standpunkt aus die besten zur Zeit bekannten fehlerkorrigierenden Codes, sie sind allerdings noch zu rechenaufwendig.